Theater machen im Theaterland
Die Videobühne „Poza“ feierte 2005 ihr 20jähriges Bestehen. Die Stücke des 1985 gegründeten ersten polnischen Videotheaters, Lothe Lachmann Videoteatr „Poza“ (Pose), behandeln den Kreislauf von Geburt, Leben, Tod, Wiedergeburt und das „Leben“ über den Tod hinaus. Nach dem frühen Tode ihres Mannes, des Regisseurs und Dramatikers Helmut Kajzar, verband sich die bekannte Schauspielerin Jolanta Lothe mit dem Schriftsteller und Regisseur Peter Lachmann. Sie glaubt, dass Kajzar diese Verbindung wollte, damit sie das Videotheater gründen, das heute zu den führenden Experimentierbühnen gehört. Dort lebt der Geist Kajzars weiter, auf dessen Texten das Stück „Akt Orki“ (SchauspielerInnen) basiert.
Das Theater, dass aus dem Tod hervor gegangen war, konnte sich nicht mehr von diesem los sagen. Andererseits sind die Produktionen provokativ sinnlich, wie wenn es darum ginge, dem Tod trotz seiner Allgewalt ein Schnippchen zu schlagen. Die Aufführungen des Lothe Lachmann Videoteatr „Poza“ finden in einer stilvollen Villa in Warschau, dem Pałac Szustra (Szuster-Palais), statt. Der kleine Theaterraum bietet Platz für gerade einmal 35 Personen. Viele Zuschauer stammen aus dem Warschauer Künstler-Milieu; früher besuchte auch der Pianist Władysław Szpilman die Premieren. Bei der Vorpremiere eines Stückes mit dem Arbeitstitel „Śpiewanna“ (Singspiel) am 26. Juni waren unter anderem die Malerin und Dichterin Krystiana Robb-Narbutt und der Plakat-künstler Wiesław Rosocha anwesend. Die“virtuellen“ Schauspieler sind in Videofilmen zu sehen, die auf mehreren Bildschirmen ablaufen. Dabei werden eindrucksvolle Farb- und Verfremdungseffekte erzielt. Jolanta Lothe tritt auch „live“ auf.
„Poza“ nimmt mit „Śpiewanna“ ein früheres Stück in einer Neufassung anlässlich seines 20jährigen Bestehens auf. Das auch „Pasja Alkestis“ (Die Passion der Alkestis) genannte Werk ist eine Art Video-Oper in Kleinformat. Der Titel „Śpiewanna“ ist auch als Wortspiel zu verstehen (śpiewać=singen, wanna=Wanne). So singt die Schauspielerin Maria Peszek als Alkestis in einer Badewanne. Die Vorführung wird mit moderner Musik der Band Elektrolot untermalt, zu der die auf den Videos zu sehenden Schauspieler singen. Die Uraufführung fand am 17. September 2005 in Gliwice (Gleiwitz), dem Geburtsort Lachmanns, statt, und zwar in den als magisch geltenden Theaterruinen des ehemaligen Stadttheaters, dessen Brand Lachmann 1945 als Kind beobachtete. Anschließend wird das Stück im Pałac Szustra aufgeführt.
Es handelt sich dabei um eine zeitgenössische Travestie des griechischen Mythos, der von Euripides als Tragikomödie gestaltet wurde, wobei sich die beiden Hauptfiguren zwischen Tragik und Kitsch bewegen. Die in den Tod verliebte Alkestis erklärt sich bereit, sich für den ihr bestimmten Mann aufzuopfern und an seiner Stelle zu sterben. Sie weiß schon, dass sie wieder auferstehen wird. Ihr von dem berühmten Countertenor Artur Stefanowicz dargestellter Bräutigam Admetos ist einerseits tief traurig über ihren Tod, andererseits aber auch froh darüber, dass er nun nicht sterben muss. Als Alkestis aus dem Jenseits zurückkehrt, überkommt ihn die Todesangst. Zwischendurch treten in Anlehnung an den griechischen Chor die drei Moiren auf, Schicksalsgöttinnen, die über Leben und Tod entscheiden. Sie reden dabei wie Frauen von heute.
Der Mythos der Alkestis wurde von vielen Autoren und Komponisten aufgegriffen; Lachmanns Version profitiert gleicherweise von Euripides wie von Thornton Wilder, aber auch von Rilkes Ballade „Alkestis“, doch ist sein Text vor allem dem heutigen Horizont und der Sprache der Gegenwart verpflichtet. Die Unsterblichkeit der Frau symbo-lisiert ein auf einer wahren Begebenheit be-ruhender Text, den Lothe am Ende „live“ interpretiert. Die Krebszellen der daran verstorbenen Afroamerikanerin Henrietta Lacks überleben diese und werden weltweit in vielen Forschungslabors weiter verwendet. Sie sind solange unsterblich, wie sie dort benötigt werden. Diese drastische Geschichte ersetzt das Medusenhaupt der antiken Fassung des Euripides.
E.T.A. Hoffmann in Polen
Ebenfalls Premiere hatte im Herbst 2005 ein Stück von Lachmann über den deutschen Komponisten, Maler und Dichter E.T.A. Hoffmann, der vor etwa 200 Jahren als preußischer Beamter nach Polen kam und sich in Posen, Płock (Plozk) und Warschau aufhielt. Diesem in Warschau kaum wahrgenommenen Künstler soll damit ein erstes Denkmal gesetzt werden. Der Aufführungsort befindet sich im Lazienki-Park, wo Hoffmann seine Mußestunden verbrachte. Bei diesem Stück steht der Aufenthalt Hoffmanns in Warschau im Vordergrund. In beiden bereits aufgeführten Teilen über dessen Zeit in Plock und die Übersiedlung nach Warschau tritt auch der in Polen populäre deutsche Kabarettist Steffen Möller auf Videoband auf, während Jolanta Lothe als Hoffmanns polnische Frau Misia in einem von Lachmann verfassten Textfragment „Frau Hoffmann“ agiert. Die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Warschau. Lachmanns Wunschtraum ist es, eine echte (Video-) Oper über E.T.A. Hoffmanns Erlebnisse in Warschau auf die Bühne zu bringen. Eine weitere Thematik, die Lachmann beschäftigt, sind Überlebende des Holocaust. Als Freund von Władysław Szpilman kannte er lange vor der erneuten Veröffentlichung von dessen Autobiografie der Jahre 1939 bis 1945 und deren Verfilmung durch Roman Polański die ursprüngliche, zensierte Fassung von 1946 mit dem Titel „Smierć miasta“ (Der Tod einer Stadt). Lachmann hielt Schilderungen Szpilmans auf Videoband fest.
Wie der Zufall es will, leben Jolanta Lothe und Peter Lachmann in dem selben Haus und nach Ansicht von Władysław Szpilman sogar in der selben Wohnung in der Al. Niepodległości (etwa in Höhe der ul. Filtrowa), in der Szpilman den deutschen Offizier Wilm Hosenfeld traf, der ihn rettete. Als ich Lachmann interviewte, saß ich möglicherweise in dem selben Raum, in dem damals auf dem verstimmten, von der Feuchtigkeit angegriffenen Klavier mit den schwer gängigen Tasten das Nocturne cis-Moll von Frederic Chopin erklang. Anschließend stiegen wir noch die Treppen hinauf zum Dachboden, wo sich Szpilmans Versteck befand. Heute sind dort drei verschlossene Türen; aus der einen drang Stimmengewirr.
Lachmann entschied sich für die Aufführung eines anderen Stücks zu diesem Thema mit dem Titel „Powieść dla Hollywoodu“ (Ein Roman für Hollywood). Dieses basiert auf einer anhand einer wahren Geschichte von der Journalistin, Schriftstellerin und Cineastin Hanna Krall verfassten Reportage. Es ist die Geschichte von Wanda Gadomska, einer in Israel lebenden polnischen Jüdin, die in der Erzählung Isolda R. heißt und von Teresa Marecka gespielt wird. Es geht um die Kraft der Liebe und die Entschlossenheit zu leben; Isolda R. und ihr Mann überleben, entfremden sich dann später aber. Jolanta Lothe übernimmt hier die Rolle der Erzählerin. Die Texte zu den meisten übrigen Stücken stammen von Peter Lachmann. Das Repertoire des Videotheaters „Poza“ umfasst die Stücke „Aktorka“ I (1985) nach „Der Star oder die Kleider“ von Helmut Kajzar, „Kajzar – Fragmenty“ (1987), weitere Versionen von „Aktorka“, „Operacja Alkestis“ (1991), „KaBaKai/REanimacje“ (1993), „Powieść dla Hollywoodu“ (1996), das zusammen mit Tadeusz Różewicz realisierte Videoporträt „Tadeusz Różewicz – deutsche Gedichte und Geschichte“ (2000), weitere Fassungen von „Aktorki“, „E.T.A. Hoffmann in Płock“ und „E.T.A. Hoffmann – von Płock nach Warschau“ (2004) sowie „E.T.A. Hoffmann in Warschau“ (2005) und „Spiewanna czyli Pasja Alkestis“ (2005). Die Stücke wurden in mehreren Sprachen in vielen Ländern Europas aufgeführt (www.poza.q.pl).
Schriftsteller in beiden Sprachen
Lachmann schreibt und dichtet sowohl in polnischer als auch in deutscher Sprache. Für ihn ist die ganze polnische Wirklichkeit Theater, denn alle spielen hier ihre Rollen. So gibt es, wie er betont, das Kirchentheater, das Staatstheater und jüngstens auch das Trauertheater. Lachmann sieht sich als jemand, der Theater macht in einem exzessiven Theaterland. Außerdem ist er Schriftsteller, Lyriker, Liedertexter, Übersetzer und Lektor. In polnischer Sprache ist bereits sein autobiografisch geprägter Essay-Band erschienen mit dem Titel „Wywołane z pamięci“ (Gedächtnisabzüge, 1999). Die deutsche Fassung, die keine schlichte Übersetzung ist, sondern sich speziell an den deutschen Leser richtet, muss noch verlegt werden. Sie erhält den Titel „Wie ich (nicht) vertrieben wurde“.
Peter Lachmann wurde 1935 als Deutscher in Gleiwitz geboren. Er wurde mit seiner Mutter und Schwester nach dem Krieg nicht aus Schlesien vertrieben, da die Mutter einfach das Durchgangslager, von dem aus der Transport in Richtung Westen starten sollte, mit den Kindern wieder verließ und in die Stadt zurück kehrte. Diese aber wandelte sich zusehends. Lachmann musste ab 1945 Polnisch lernen und ein polnisches zweites Ich annehmen, das mit dem deutschen immer wieder in Konflikt geriet. Die Umsiedlung nach Westdeutschland erfolgte 1958; Lachmann lebte anschließend in Köln, München, Bochum, Radolfzell am Bodensee und wiederholt auch in Berlin. Er studierte Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft in Köln und Basel. Die polnische Sprache aber wurde für ihn seit seinem Debüt 1956 zum primären poetischen Ausdrucksmittel. Lachmanns zweite kulturelle Identität wird dadurch symbolisiert, dass sein Vorname als Autor der polnischen Publikationen „Piotr“ lautet. Das deutschsprachige Debüt erfolgte bald nach der Umsiedlung (Junge Lyrik 1960). Außerdem übersetzte Lachmann etwa 40 Bücher führender polnischer Autoren, darunter Czesław Milosz, Tadeusz Różewicz, Leszek Kołakowski, Jan Kott und Helmut Kajzar. Dafür erhielt er 1981 den Preis der New Yorker Jurzykowski -Stiftung und 1991 den Preis der Pariser „Kultura“. Vom Deutschen ins Polnische übertrug Lachmann u.a. Werke von Paul Celan, Georg Büchner und E.T.A. Hoffmann. Er veröffentlichte Essays und schrieb Hörspiele (u.a. „Krönungsmesse“ – WDR, „Nachtzoo“- SR). Zu seinen polnischen Gedichten gehören „Niewolnicy wolności“ (Freiheitssklaven, 1983) und „Mniejsze zło“ (Das geringere Übel, 1991). Ein neueres deutschsprachiges Werk ist der poetisch-essayistische Zyklus „Warschauer Geisterbahnen“.
Auch Jolanta Lothes Mutter, Wanda Lothe-Stanisławska, war Schauspielerin, dank derer sie bereits im Alter von zehn Jahren auf der Bühne stand. Ihren Vater, Tadeusz Lothe, kannte sie nicht, da er zusammen mit anderen Vertretern der polnischen Intelligenz 1943 in Wilna von Deutschen erschossen wurde. Ihre Großmutter, Wanda Stanisławska, gehörte zur Wilnaer Künstler-Boheme der Jahrhundertwende und schrieb Gedichte. Jolanta Lothe spielte in beliebten Fernseh-Serien und Filmen. Außerdem trat sie im Warschauer Studio- und Narodowy Theater u.a. in avantgardistischen Stücken von Helmut Kajzar und Józef Szajna auf.
Beatrice Repetzki
© Fotos: Peter Lachmann
www.videoteatrpoza.pl/