und Deutschland – Vergangenheit und Zukunft

Als das Ghetto brannte

Der Deutsche

Es waren die ersten Septembertage 1939. Die Deutschen besetzten Lodz (Łódź). Trotz des Krieges waren die Schulen noch geöffnet. Wie immer in den ersten Okkupationstagen requirierten die Deutschen Zimmer für ihre Offiziere. Unsere Wohnung war groß und schön. Eines Tages, als ich aus der Schule zurückgekommen war, hörte ich die Türglocke. Ich öffnete. In den Tür stand ein Deutsche in Uniform. Mein Herz begann angsterfüllt zu klopfen, das Blut stockte mir in den Adern. Ich war allein zu Hause, die Eltern mussten arbeiten und das Kindermädchen holte gerade meinen Bruder aus der Vorschule ab. Der Deutsche trat ein, sagte etwas, öffnete eine Tür nach der anderen und betrat das Wartezimmer, wo gewöhnlich die Patienten saßen. Diesmal war niemand da. Er nahm Platz und zündete eine Zigarette an.

Es sah danach aus, das er warten würde. Er war nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt, an seiner Uniform hatte er Epauletten, offensichtlich ein Offizier. In diesem Moment kam das Kindermädchen zurück, bekreuzigte sich und rief meinen Papa an. Umgehend kam er nach Hause. Er betrat das Wartezimmer, sah den Fremden und… öffnete weit seine Arme. Der Deutsche tat dasselbe. Für einen langen Augenblick umarmten sie sich. Ich war sprachlos. Das Kindermädchen bekreuzigte sich erneut.

Hauptmann Hans Werner zog bei uns ein. Er war Lehrer von Beruf. Es stellte sich heraus, dass er in Heidelberg Geisteswissenschaften studiert hatte, zur der Zeit, als mein Vater ein Medizinstudium absolvierte. Zwei Jahre lang hatten sie zusammen in einer Unterkunft gewohnt, eine gewisse Zeit sogar ein Zimmer geteilt. Sie hatten zusammen Wagneropern mit der Partitur in der Hand gehört und in den kleinen Studentenkneipen lustige Lieder beim Bier gesungen. Dann war der Kontakt abgerissen. Jetzt verbrachte der Deutsche die freien Abende mit meinem Vater bei langem Gesprächen. Ich war verzweifelt und schämte mich für ihn. Die Menschen um mich herum gingen mit gesenkten Köpfen und wirkten düster, traurig und verstört. Und ausgerechnet mein Vater, die größte Autorität meines Lebens, nahm einen Deutschen auf, den Feind unseres Volkes, den Verursacher des schrecklichen Krieges, als wäre er sein engste Freund.

Am 11. November, dem Tag der polnischen Unabhängigkeit, erreichte uns ein Brief mit einem deutschen Stempel. Vater wurde aufgefordert, sich bei der Gestapo zu melden. Warum ist er nur hinge-gangen? Er, ein so klug Mensch, ein Mann mit politischer Erfahrung, hatte er wirklich nicht einschätzen können, was das bedeutete?  War er so vertrauensselig gewesen? Er ging weg und kehrte nie zurück. Nur einen Brief hinterließ er uns, dass er nicht das Recht hatte, uns in Gefahr zu bringen und dass ich gut zu meinem Bruder sein sollte, da er noch klein sei. Am Nachmittag desselben Tages berichtete uns Hans Werner, dass er Vater zusammen mit anderen Geiseln in einer Fabrik in Radogoszcz, die in ein Lager umgewandelt worden war, gefunden habe. Von diesem tag an war Werner ratlos tätig. Er ging zur Gestapo, schrieb Briefe nach Berlin, rief stundenlang die verschiedenen Stellen an, fuhr irgendwo hin, kam am folgenden Tag zurück, telefonierte wieder. Er war Mamas einzige Stütze und Hoffnung. Etwa zehn Tage später kam die Gestapo zu uns, um Hans Werner abzuholen, der sich gerade bei uns aufhielt. Wieder war ich ohne Eltern und Kindermädchen. Er zog die Uniformjacke und seinen Militärmantel an, wandte sich zu mir und sagte etwas, was ich nicht verstand. Er war ruhig. Er ging und kam nicht mehr zurück.

Die Deutschen erlaubten, den gefangenen einmal am Tag zu bringen. Wir trugen damals schon die  Armbinder mit dem Davidstern. Jeden Tag verließ ich mit einem Essgeschirr das Haus, und beim Einsteigen in die Straßenbahn streifte ich mit einer schnellen Bewegung die Binde vom Ärmel ab. In der Bahn traf ich andere Mädchen, die auch Essgeschirre bei sich hatten. Einmal sagte meine Klassenkameradin und Nachbarin ziemlich laut: „Du bist doch Jüdin, warum trägst du keinen Stern?“. Eine Frau drehte sich um, sagte aber nichts dazu.

Eines Tages stand am Lagertor ein „guter Deutscher“. Als ich meinen Essgeschirr abgeben wollte, hielt er mich an und fragte mich auf polnisch, ob ich meinen Vater sehen wolle. Er ging weg und kam nach ein paar Minuten mit Papa zurück. Vater trug einen Mantel, sein Kopf war kahlgeschoren, es war ein kalter Novembertag. Er kam mir abgemagert vor und wirkte sehr blass und müde. Ohne zu lächeln, sah er mich an und fragte:
– „Macht ihr etwas?“.
– „Mama hat es versucht, und Herr Werner hat es versucht, aber da kann man nichts machen“ antwortete ich.
Wieder sah er mich an und wiederholte nur die Worte: „Aber da kann man nichts machen…“
Im nächsten Augenblick kam schon der Deutsche, um ihm abzuführen. Am anderen Tag haben sie mein Essgeschirr nicht mehr entgegengenommen. Meinen Vater  habe ich nie wieder gesehen. Und ich wurde für das ganze Leben mit diesem „Aber da kann man nichts machen“ zurückgelassen.

 

 

Alina Margolis-Edelman
Übersetzung: Dr. Beate Kosmala

 
 
Bibliografie
A. Margolis-Edelman: Als das Ghetto brannte